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Unfallversicherung

Kein Ausschluss der Kausalität bei „Gelegenheitsursache“ – BGH vom 19.10.2016

Kurz und knapp.

Mit seinem Urteil vom 19.10.2016 (IV ZR 521/14, r+s 2016, 630) hatte sich der BGH mit der Frage zu befassen, ob trotz einer degenerativen (bis dahin „stumm“ verlaufenden) Vorschädigung ein Kausalzusammenhang zwischen einem Unfallereignis und danach eintretenden Beschwerden zu bejahen ist, sofern das Unfallereignis die Vorschädigung lediglich „aktiviert“ hat und hierzu auch jede andere Ursache in der Lage gewesen wäre (mithin das Unfallereignis eine reine „Gelegenheitsursache“ darstellt).

Der BGH orientiert sich eng an den dem Vertrag zugrunde liegenden Bedingungen und kommt nach deren Auslegung (aus der Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers) zu dem Ergebnis, dass sich die Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschädigung nach allgemeinen Grundsätzen beurteile und sich ein hiervon abweichender „eigenständiger unfallversicherungsrechtlicher Kausalbegriff“ den Versicherungsbedingungen nicht entnehmen lasse. Im Ergebnis erachtet der BGH damit eine Gelegenheitsursache für kausal (sowohl im äquivalenten, als vor allem auch im adäquaten Sinne), da es nicht außerhab jeglicher Wahrscheinlichkeit liege, dass das Unfallereignis für die Beschwerden letztlich auslösend ist. Eine bis zum Unfallereignis stumm verlaufende und erst durch das Unfallereignis „aktivierte“ Vorschädigung ist danach nicht unter dem (vom VN zu beweisenden) Gesichtspunkt der Kausalität relevant, sondern vielmehr unter dem (vom VR zu beweisenden) Gesichtspunkt der Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen.

Was war passiert?

Die VP einer Unfallversicherung (auf der Grunde der AUB 2000) war als Übungsleiterin eines Sportvereins während des Kinderturnens zu Fall gekommen; nachdem sie sich mit den Händen aufgestützt hatte, verspürte sie starke Schmerzen im Kreuz und begab sich nach einigen Tagen in stationäre Behandlung, im Zuge derer eine Bandscheibenprotrusion L4/L5 sowie eine Spinalkanalstenose festgestellt wurden.

Knapp zwei Jahre später machte die VP bei ihrem Unfallversicherer Leistungen geltend: Wegen Beweglichkeitseinschränkungen des Rumpfes, verminderter Belastbarkeit und in das linke Bein ausstrahlender Schmerzen bestünde Invalidität. Der VR ließ daraufhin ein unfallchirurgisch-orthopädisches Gutachten erstellen, welches zu dem Ergebnis kam, dass die Spinalkanalstenose bereits vor dem Ereignis bestanden haben müsse und die nachgewiesene Bandscheibenprotrusion nicht als bedingungsgemäße Unfallfolge zu werten sei, weshalb die Beklagte Leistungen ablehnte.

Im Zuge des sodann von der VP beim Landgericht Tübingen angestrengten Gerichtsverfahrens wurde ein Sachverständigengutachten eingeholt, welches zu dem Ergebnis kam, dass die Beschwerden der Klägerin nicht auf die Bandscheibenverletzung (als der primären Unfallverletzung) zurückzuführen seien, sondern vielmehr auf eine schon vor dem Unfallereignis bestehende (degenerative) Facettengelenksarthrose. Diese „Wirbelsäulenarthrose“ sei durch den Unfall nicht verschlimmert worden, sondern habe in gleicher Weise und Ausprägung auch schon vorher bestanden – einzig mit dem Unterschied, dass sie zuvor „stumm“ verlaufen und erst durch den Unfall „aktiviert“ worden sei.

Frage- und Problemstellung

Wenn – wie hier – ein pathologischer Zustand schon vor dem Unfallereignis besteht, sich bis dahin aber nicht in spürbaren Beschwerden bemerkbar gemacht hat („stummer Verlauf“), das Auftreten dieser spürbaren Beschwerden aber gleichwohl vorprogrammiert (eine Frage der Zeit) war, kann es dann sein, dass für diese Beschwerden Leistungsansprüche aus einer Unfallversicherung bestehen, nur weil – überspitzt – es rein „zufällig“ ein Unfallereignis war, welches „das Fass zum Überlaufen gebracht hat“ und jedes andere Ereignis und Verhalten (z.B. das bloße Umdrehen im Bett) die Beschwerden in gleicher Weise hätte „aktivieren“ können?

In Rechtsprechung und Schrifttum herrschte bis zur Entscheidung des BGH weitgehend Einigkeit: Ein Unfallereignis ist nur dann kausal für bestimmte Beschwerden (und nur dann ist ein anspruchsbegründender „Unfall“ im Sinne der AUB anznehmen) wenn er die gesundheitliche Konstitution der versicherten Person richtungsweisend verändert hat. Dies wiederum sei dann nicht der Fall, wenn die Beschwerden durch innerkörperliche Vorgänge bereits „vorprogrammiert“ gewesen seien, so dass sie auch bei jedem anderen, geringfügigen und beliebig austauschbaren Anlass hätten nach außen treten können.

Kurz: Wenn das Unfallereignis lediglich eine „Gelegenheitsursache“ darstellt, reicht eine solche Ursächlichkeit im Sinne einer „Zufälligkeit“ aus, um einen Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschädigung zu bejahen?

Die Entscheidungen der Vorinstanzen

In beiden Instanzen waren die Invaliditätsansprüche der VP als unbegründet zurückgewiesen und die Klage abgewiesen worden. Beide Instanzen stützten ihre Entscheidung auf den vom Sachverständigen festgestellten Umstand, dass die in Rede stehenden Beschwerden nicht auf eine traumatische Veränderung, sondern vielmehr auf einen (überaltersgemäßen) Verschleiß zurückzuführen seien, eine etwaige Invalidität der Klägerin mithin nicht unfallbedingt sei.

Die Frage einer Vorinvalidität oder einer Anspruchsminderung wegen mitwirkender Krankheiten oder Gebrechen stelle sich somit nicht.

Die Entscheidung des BGH

Der BGH ist der Auffassung, dass die Vorinstanzen den Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der Gesundheitsbeeinträchtigung nicht hätten verneinen dürfen.

Der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden besteht nach der Äquivalenztheorie, wenn der Unfall im Sinne einer conditio sine qua non nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Gesundheitsschaden entfiele; insoweit sei auch eine Mitursächlichkeit ausreichend (was schon aus der Tatsache folge, dass in Nr. 3 AUB 2000 bei der Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen, also unfallfremden Faktoren, kein Ausschluss, sondern nur eine Anspruchsminderung entsprechend dem Mitwirkungsanteil vorgesehen sei).

Weiterhin müsse nach der Adäquanztheorie das Unfallereignis im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinllichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Herbeiführung des Gesundheitsschadens der eingetretenen Art geeignet sein. Der bislang in Rechtsprechung und Schrifttum ganz überwiegend vertretenen Auffassung, dass genau diese Kausalität im Sinne der Adäquanz dann nicht gegeben sei, wenn die in Rede stehenden Beschwerden auch durch jede andere Ursache hätten ausgelöst werden können und der Unfall mithin lediglich eine „Gelegenheitsursache“/Zufallsursache darstelle, erteilt der BGH eine deutliche Absage.

Nach der Auffassung des BGH richtet sich die Kausalität im privaten Unfallversicherungsrecht nach allgemeinen Kriterien und hiernach sei eine Kausalität unter Adäquanzgesichtspunkten schon bei einer nicht gänzlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegenden Mitwirkung gegeben. Das Vorhandensein eines Vorschadens können mithin für sich genommen nicht die Kausalität nicht ausschließen. D.h. wenn ein Vorschaden vorliegt und es nicht gänzlich außerhalb jeglicher Wahrscheinlichkeit liegt, dass dieser Vorschaden die in Rede stehenden Beeinträchtigung auslöst, dann besteht zwischen dem Unfallereignis und den Gesundheitsbeeinträchtigungen auch ein ursächlicher Zusammenhang (und zwar unabhängig davon, ob der Unfall rein zufällig das auslösende Ereignis war).

Für die Annahme, dass das Unfallereignis – über die Kriterien der Äquivalenz und Adäquanz hinaus – die gesundheitliche Konstitution der versicherten Person richtungsweisend verändert haben müsse (was dann ausscheiden soll, wenn die Schädigung durch innerkörperliche Vorgänge bereits „vorprogrammiert“ ist, so dass sie bei jedem geringfügigen und beliebig austauschbaren Anlass nach außen treten kann), gibt es nach Auffassung des BGH keine Grundlage. Weder sei dies den Versicherungsbedingungen in dieser Form zu entnehmen, noch müsse sich einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer ein solches Verständnis aufdrängen. Im Gegenteil: Aus der Regelung über die Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen an der durch den Unfall verursachten Gesundheitsschädigung lasse sich für den Versicherungsnehmer schließen, dass er im Grundsatz auch dann Versicherungsschutz genießt, wenn Unfallfolgen durch eine bereits vor dem Unfall vorhandene besondere gesundheitliche Disposition verschlimmert werden.

Als weiteres Argument führt der BGH an, dass ein Ausschluss der Kausalität über die Figur der „Gelegenheitsursache“ die dem Versicherer obliegende Beweislast für die Mitwirkung von Vorerkrankungen unzulässig auf den Versicherungsnehmer verlagern würde. Die Kausalität des Unfallgeschehens für die Gesundheitsbeeinträchtigung der Klägerin wäre deshalb zu bejahen, wenn die bei dem Vorfall auf die Klägerin einwirkenden Kräfte – mögen sie auch gering gewesen sein – die Aktivierung der zuvor klinisch stummen Facettengelenksarthrose bewirkt und damit die geltend gemachten Dauerbeschwerden ausgelöst haben.

Was tun?

Dass der Unfallversicherer für Gesundheitsschäden zahlen soll, die primär auf eine vom Unfallereignis vollkommen unabhängige Vorschädigung zurückgehen, ist einigermaßen befremdlich. Der BGH hat diese Schlussfolgerung – bei genauer Betrachtung – aber auch gar nicht bestätigt! Was der BGH bestätigt hat (und dies – bei Lichte betrachtet – juristisch durchaus nachvollziehbar), ist „nur“ Folgendes:

Die „Baustelle“, auf der die Problemtik einer stummen und durch das Unfallereignis lediglich aktivierten Vorschädigung abzuarbeiten ist, ist nicht der Unfallbegriff (und die dort „auf erster Stufe“ inzident zu prüfende Frage eines Kausalzusammenhangs), sondern vielmehr der systematisch nachgelagerte (und vom VR zu beweisende) Gesichtspunkt einer Mitwirkung von Gebrechen. Die Entscheidung des BGH bedeutet somit – entgegen aller Schwarzmalerei – nicht, dass Unfallversicherer zukünftig für stumme Vorschäden immer zahlen müssen, sondern sie verlagert die Diskussion lediglich auf eine andere Prüfungsstufe: Wenn – wie hier – ein Fall der Vorschädigung besteht, dann handelt es sich um ein Gebrechen und dann wird man sich die Frage stellen müssen, ob unter dem Prüfungspunkt der Mitwirkung diese im Einzelfall derart überwiegt, dass das lediglich auslösende Unfallereignis gar nicht mehr ins Gewicht fällt.

Anspruchsminderung „auf Null“!

In diese Richtung wird die Argumentation gehen müssen: Die Mitwirkung des vorbestehenden Gebrechens überwiegt derart, dass sie die Auswirkungen des Unfallereignisses vollständig zurücktreten lässt (so, wei wir dies bei der Prüfung eines Mitverschuldens kennen).

Weiteres hierzu in Kürze.

Dr. René Steinbeck

Dr. René Steinbeck ist Fachanwalt für Versicherungsrecht und Partner der Boutique für Versicherungs- und Haftpflichtrecht Steinbeck und Partner.